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Ulla Lenze

Ulla Lenze

Homepage: www.ullalenze.de
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Wikipedia Ulla Lenze – Wikipedia

Biografie

Geboren 1973 in Mönchengladbach. Sie wuchs in Wickrath auf und besuchte das Gymnasium an der Gartenstraße in Rheydt. Als Vierzehnjährige war sie Preisträgerin beim bundesweiten Wettbewerb „Schüler schreiben“. Die Anregungen für ihren mehrfach ausgezeichneten Debütroman „Schwester und Bruder“ erhielt sie durch längere Aufenthalte in Indien; den ersten als sechzehnjährige Schülerin in einer indischen Gastfamilie. Nach dem Abitur zog sie zunächst nach Heidelberg, um dort Indologie und Anglistik zu studieren, doch entschied sie sich bald wieder um: 1995 nahm sie an der Kölner Musikhochschule ihr Studium der Schulmusik auf mit dem zweiten Fach Philosophie. Seit dem Erscheinen von „Schwester und Bruder“ im Herbst 2003 ist sie auf Lesereisen, Podiumsdiskussionen, sowie in Radio- und Zeitungsinterviews anzutreffen.

Bibliografie

2003
Schwester und Bruder. Roman. DuMont. ISBN 978-3832178543

2008
Archanu. Roman. Meridiane 105. ISBN 978-3-25060105-0

2012
 Der kleine Rest des Toges. Frankfurter Verl.Anst. ISBN 978-3-627-00179-7

2015
Die endlose Stadt. Frankfurter Verl.Anst. ISBN 978-3-627-00210-7

2020
Der Empfänger. Klett-Cotta. ISBN 978-3-608-96463-9

Erzählungen und Essays in Zeitschriften und Anthologien, u.a. in: Sprache im technischen Zeitalter, Bella Triste, Volltext, Kölner Stadtanzeiger

Preise, Auszeichnungen, Stipendien

2002
Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin (Autorenwerkstatt Prosa)

2003 Rolf-Dieter Brinkmann Stipendium der Stadt Köln
Ernst Willner-Preis beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb für einen Auszug aus Schwester und Bruder
Jürgen Ponto-Preis für das beste Romandebüt

2016
Literaturkreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft.

2020
Niederrheinischer Literaturpreis 2020 der Stadt Krefeld.

Leseprobe

Schwester und Bruder

Als Lukas aus Indien zurückkehrt, ist er von seinen Eindrücken überwältigt, die Begegnung mit einem blinden Wandermönch hat ihn verwandelt. Selbstfindung durch Abstand vom Ich, das Erkennen des Eigenen im absolut Fremden - Lukas ist diesen Weg der spirituellen Suche gegangen und glaubt, zu einem Initiierten geworden zu sein, glücklich im Nichts, glücklich, sein Selbst gefunden zu haben. Skeptisch hört sich seine Schwester Martha, daheimgeblieben und pragmatisch ihrem Jurastudium nachgehend, seine unglaublichen Berichte an, die sich obendrein noch über Wochen hinziehen. Denn Lukas wird krank und nutzt ihre Besuche, um weiter zu erzählen. Schließlich wird er blind und glaubt, nur eine erneute Begegnung mit dem mysteriösen „Mann ohne Augen“ könne ihn heilen. Martha, wenn auch widerwillig, folgt seiner Bitte, ihn auf diese zweite Reise nach Indien zu begleiten, denn auch sie ist eine Suchende: Sie hofft, dem Moment auf die Spur zu kommen, in dem sich das Verhältnis zu ihrem Bruder von Liebe und Vertrauen in Schweigen und den Satz „Ich hasse dich“ gewandelt hat.
„Es ist im Monsun auch nicht ratsam, aus dem Haus zu gehen“, fährt Viju fort und schnalzt mit der Zunge.
„Es sei denn, das Haus wird weggespült“, sage ich.
Er lacht.
„Sie machen Witze, nicht wahr, Madam?“
Aber ich hätte natürlich Recht. In der Tat verlören sie auf diese Weise jedes Jahr viele Menschen, Slumbewohner, er aber möchte uns von einer Gefahr berichten, die allen Menschen während des Monsuns drohe. Er macht eine Pause. Tatsächlich verschwänden jährlich eine Menge Menschen nur deshalb, weil sie das Haus verließen und in einen Gully fielen. Ich frage ihn, wie lange wir etwa brauchen werden bis Solapur. Er sieht auf die Uhr, sagt, wir würden es heute noch schaffen, er müsse es heute noch schaffen, es sei sehr wichtig, aber die Gullydeckel, die nämlich würden tatsächlich geklaut, er reibt sich den Nacken. Vielleicht auch bloß weggenommen, damit das Wasser besser abfließe. Die Menschen fielen hinein und verschwänden für immer. „Schrecklich, nicht wahr?“ Ich stimme ihm zu und frage, ob wir mittags eine Pause machen könnten, trotz seiner Eile, er lächelt; erst der Magen, dann Gott, das sei so ein Sprichwort bei den Hindus, dem er viel abgewinnen könne. Selbstverständlich würden wir mittags Rast machen, er kenne da ein sehr gutes Restaurant in einer Kleinstadt, da bekomme man sogar Alkohol und Fleisch. Er wartet einen Moment, dann sagt er, es gebe richtige Banden, die schlügen Profit aus dieser Situation, die rollten an tiefen Stellen einen Stein auf die Straße, möglichst in die Nähe von Schlaglöchern, und von denen gebe es ja genug in Indien, er kichert, und einer von ihnen stelle sich dann auf den Stein, als Lockvogel, der Autofahrer denke, das Wasser sei nicht besonders tief, krache hinein, das Auto schlucke Wasser und ohne Hilfe komme da niemand mehr heraus. „Dann tauchen seine Kameraden auf und helfen dem Fahrer. Für viel Geld, versteht sich. Oder sie rauben ihn aus, je nachdem. Ganz schön gewitzt, nicht wahr?“
Er lächelt, als würde er sich an etwas erinnern, und ich frage, ob er das schon einmal erlebt habe. Ja, aber das sei lange her. Da sei er noch ganz jung gewesen und gerade nach Mumbai gezogen. Er hält inne, reibt sich wieder den Nacken.
„Ich habe auf dem Stein gestanden.“
Als ich nichts sage, wirft er immer wieder kurze Blicke in den Rückspiegel.
„Aber das ist lange her, Madam. Heute verdiene ich mein Geld anders. Sie sehen es ja!“
Wir haben den Highway erreicht und sind eingekeilt zwischen Lastern. Am Straßenrand liegen umgefallene Fahrzeuge, wie große Tiere, die sich zum Schlafen hingelegt haben. Eines Tages, fährt Viju fort, sei er ein guter Mensch geworden. Das verdanke er dem Monsun. Durch ihn habe er gemerkt, dass er nicht an Gott glaube, sondern an die Menschen. „Ich rede wohl sehr modern, nicht wahr?“ „Sie meinen westlich?“ fragt Lukas und klingt bitter.
Viju dreht sich zu ihm um, er ist erfreut, dass Lukas endlich redet.
„Ich glaube schon. So denkt man bei Ihnen doch, oder?“
„Bei uns kann man alles denken. Alles ist möglich. Es ist im Grunde sehr langweilig.“
Viju lächelt anerkennend, sagt, die indische Gesellschaft sei ganz anders, da gebe es die Kasten, obwohl gesetzlich längst verboten, zum Beispiel die Unberührbaren, die dürfe man nicht berühren, und vor Jahren noch hätten sie ihr Kommen laut angekündigt, Posch, Posch, der Latrinenputzer kommt, er lacht, und alle seien zur Seite gesprungen, als käme der König, auch der sei unberührbar, wo bitte also sei der Unterschied, der Palast, na gut, aber einsam seien sie beide. [...]
Zwischen den Fußgängern leuchtet manchmal ein orangefarbenes Gewand auf. Dann versuche ich, das Gesicht zu sehen, die Augen, jedes Mal mit einem Ziehen im Magen. „Diese Swamis sind seltsame Leute“, sagt Viju, der meinen Blick bemerkt hat. „Sie leben in einer anderen Welt.“
Er dreht sich zu mir um und lächelt vielversprechend. Ich frage, ob er vielleicht eine Geschichte dazu weiß. Er lacht, möchte etwas sagen, doch auf der Fahrbahn taucht eine Menschenansammlung auf, sie stehen um etwas herum. Viju hupt, dann muss er bremsen.
Ich steige aus.
Durch die aufgeregten Stimmen bricht ein grelles Kreischen. Ich frage jemanden, was geschehen ist und er sagt, „Dog bites girl.“ Da sehe ich sie. Schwarze Zöpfe mit roten Schleifen, die durch die Luft fliegen, während sie den Kopf hin und her schleudert. Ihr Mund ist weit aufgerissen, doch sie hat jetzt keine Stimme mehr. Ein Mann hebt sie hoch, bahnt sich den Weg durch die Menge. Sie kommen dicht an mir vorbei. Das Blut an ihrem Hals ist geronnen und ihr linkes Ohr ist schwarz, als sei es verkohlt.
Die Straße wird wieder frei, wir fahren weiter.
Viju sagt, das machten sie manchmal. Sie würden die Wunde auf diese Weise desinfizieren. Sie setzten dabei ganze Körperteile in Brand. Nach ein paar Minuten bitte ich ihn, anzuhalten. Reiße die Tür auf und übergebe mich noch im Sitzen. Als ich mich wieder aufrichte, spüre ich Lukas’ Hand auf meiner Schulter, von der Berührung wird mir erneut übel und ich erbreche noch einmal.
Viju stellt den Motor ab. Aus der Ferne kommen Radiogeräusche.
„Wie hieß noch gleich das Dorf, das Sie suchen?“ fragt er.
„Chandrapur“, antwortet Lukas.
„Und wo soll das sein?“
„Südlich von Solapur.“
„Ich dachte, Sie wüssten es genauer.“
„Nein. Aber ich habe bisher immer alles gefunden, was ich gesucht habe.“
Er klingt beleidigt.
Viju sieht auf die Uhr und beginnt eine Melodie zu summen, als wollte er sich und Lukas beruhigen. Die Sonne geht unter. Das Geröll auf den Feldern wirft lange Schatten. Ein Junge taucht in dem rötlichen Licht auf. Er treibt eine Schafherde auf die andere Seite. Auf der Straße teilt sich die Herde und fließt wie Wasser zu beiden Seiten am Wagen vorbei.
„Bis Solapur sind es noch zwei Stunden“, sagt Viju. „Ich muss nach Rodhara. Das liegt eine halbe Stunde nördlich von Solapur.“ Er summt weiter und Lukas richtet sich auf.
„Diese Melodie. Was ist das?“
„Ein Lied. Meine Mutter hat es früher gesungen.“
„Ich kenne das, von Dharmesh, meinem Freund. Er sagte, sie würden es in Chandrapur singen.“
„Das ist gut möglich. Rodhara liegt ja wohl nicht weit von Chandrapur. Und ich komme aus Rodhara.“
„Das heißt, Sie sind unterwegs, um Ihre Eltern zu besuchen?“ frage ich.
„Das kann man so sagen. Ja. Ich habe sie sehr lange nicht gesehen. Viele Jahre nicht mehr.“
Er schaut stumm auf die Fahrbahn. Lukas und ich warten, dass er weiterspricht. Vielleicht ist es das erste Mal, dass wir darauf warten, dass er weiterspricht. „Sollen wir fahren?“ fragt er. „Geht es Ihnen besser?“
Ich nicke und Viju startet den Motor. Beim nächsten Dorf hält er an. Er steigt aus und bittet Lukas, mitzukommen. Ich sehe sie Hand in Hand die Straße entlanggehen und dann in einem Geschäft verschwinden. Als sie zurückkehren, sehen sie unzufrieden aus.
„Wir sind noch zu weit weg“, sagt Lukas. „Sie kennen es nicht. Sie kommen ja aus ihrem Dorf nie raus.“
Viju fährt nun schneller und er senkt das Tempo kaum, wenn wir ein Dorf erreichen. Hinter uns wirbeln Staub und Abfall durch die Luft.
„Die Menschen im Westen sterben anders als die Menschen im Osten“, sagt er plötzlich.
„Das stimmt“, sagt Lukas.
„In unseren Schriften heißt es: Die Art, wie ein Mensch stirbt, ist die Art, wie er gelebt hat. Es heißt auch: Woran ein Mensch im Moment des Todes denkt, ist das, was ihn nach seinem Tod erwartet. Das ist seltsam, nicht wahr. Aber meinen Sie, es ist falsch?“
„Ich weiß es nicht“, sagt Lukas.
Viju scheint mit dieser Antwort zufrieden. Er wiegt den Kopf hin und her und sieht gedankenverloren auf die Fahrbahn. „Aber das ist es, was man in diesem Land glaubt“, sagt er schließlich. „Und bei Ihnen glaubt man etwas anderes. Das heißt also, was ich glaube, hängt davon ab, wo ich lebe. Das scheint mir verdächtig, Ihnen nicht? Darf ich fragen, welche Vorstellung man bei Ihnen vom Tod hat?“
„Man kommt danach in den Himmel“, sagt Lukas.
„Einfach so?“
„Man muss getauft sein. Dann ja. Einfach so.“
„Nicht schlecht“, sagt Viju und lacht. „Das klingt bequem.“
„Auch das Leben dort ist bequem“, sagt Lukas.
„Und dennoch haben Sie solche Angst vor dem Tod, nicht wahr? Bei uns wäre man froh, wenn man das glauben könnte, was Sie glauben. Dass es mit dem einen Leben getan ist. Nein, wir haben keine Angst vor dem Tod. Wir haben Angst vor dem Leben, das nicht aufhört.“