Dietrich (Dirk) Hespers

Dietrich (Dirk) Hespers

Biografie

Geboren am 21. Februar 1931 in Mönchengladbach, verstorben am 21. Januar 2018; seine Kindheit verlebte er in der niederländisch/belgischen Emigration. Nach der Verhaftung seiner Eltern durch die Gestapo 1942 in Antwerpen, wurde er von der NSV "repatriiert" und lebte - ausgenommen die Zeit der Evakuierung in Aaken an der Elbe - bis 1948 in Mönchengladbach. Die Rückkehr in seine "eigentliche Heimat", die Niederlande, nach Ende des zweiten Weltkrieges wurde ihm verwehrt. Da er nach seinen traumatischen Erlebnissen durch Naziherrschaft und Krieg Deutschland als Gefängnis empfand, begab er sich - ermutigt und beeinflusst durch die Bündische Jugend - für mehrere Jahre auf "große Fahrt", die ihn - ohne Geld, nur mit leichtem Gepäck und Gitarre - durch ganz Europa und den Nahen Osten führte. 1954 Abitur am Abendgymnasium in Düsseldorf/Oberkassel; danach Pädagogikstudium an der Aachener Lehrerakademie. Bis zu seiner Pensionierung war er dreißig Jahre lang Lehrer an verschiedenen Schulen. Der Autor hat aus zwei Ehen fünf Kinder. Er ist stellvertretender Vorsitzender der "Theo-Hespers-Stiftung", die im Andenken an seinen Vater, der 1943 von der Gestapo in Berlin-Plötzensee hingerichtet wurde, gegründet worden ist. Dirk Hespers ist allen "historisch und kulturell interessierten Mönchengladbachern ein Begriff". In seinem literarischen Arbeiten spannt er den Bogen von der Lyrik über die Mundart bis hin zu gesellschaftlich-politisch orientierten Zeilen. Als Mundartdichter ist er Inhaber des Rheinlandtalers.

Bibliografie

1981 Oss're Nobbers Pitter. Lieder vom Niederrhein in Mundart, Teil I. ISBN 3-924048-00-2

1981 Oss're Nobbers Dauter Lies. Lieder vom Niederrhein in Mundart, Teil II

1985 Geschichten von Jan und Griet. Nachdichtung in hochdeutscher Sprache.ISBN 3-925668-02-0)

1997 Rote Sonne. Lieder zur Bündischen Jugend

1998 Ein totes Gleis. Gedichte und Kurzgeschichten, zusammen mit Alke Rudat.


Politisch-historische Bücher

Herausgabe bzw. Mitherausgabe; Lebensläufe und historische Kommentierungen:

1965
Jugend contra Nationalsozialismus, zusammen mit Dr. Hans Ebeling

1980
Kameradschaft - Schriften junger Deutscher. Sammlung der Widerstandszeitschriften der "Deutschen Jugendfront"

1985
Reaktionäre-Rebellen-Revolutionäre, mit historischem Text-und Bildanhang, ISBN 3-925668-04-7 

Ferner Artikel und Geschichten in den "Zeitzeugnissen" der Theo-Hespers-Stiftung.

2011
Hespers. Eine Viersener Familiengeschichte. Hrsg. Dirk Hespers. Viersen: Kater. ISBN 978-3-940063-73-1


Tonprodukte

Vive le Geuz. Lieder des niederländischen Widerstandskampfes gegen die spanische Unterdrückung im 18. und 19. Jahrhundert
Fürsten in Lumpen und Loden. Geschichte der Jugendbewegung in Liedern mit Texten und Kommentaren
Wir sind so sehr verraten. Historische Widerstandslieder gegen den Nationalsozialismus
Liebste Lina, laß das Weinen! Deutsche Bänkellieder
Oss're Nobbers Pitter. Plattdeutsche Lieder
Oss're Nobbers Dauter Lies. Plattdeutsche Lieder
Rubbedidupp sät Pirlala. Plattdeutsche Lieder

(Die plattdeutschen Lieder wurden auf einer CD und einer Kassette mit dem Titel "Oss're Nobbers Pitter" zusammengefasst.)

Kassette:
Wir mösse jett donn! Gesellschaftskritische Protestlieder

Kassette:
Liebster komm heut Nacht! Internationale Liebeslieder.

Leseprobe

Die goldenen Sporen

"Es war um das Jahr 1200. Flandern war sehr reich geworden. Das kam durch Handeltreiben und Arbeiten.."

Als wir diszipliniert und schweigsam in Zweierreihe den Schulraum der Klasse 3 - 4 betraten, sprangen uns die großen, sauberweißen Schreibbuchstaben des flämischen Textes von der mittleren Schultafel an wie Raubkatzen, wie der leibhaftige grimmig schwarze Löwe auf dem grellgelben flämischen Fahnentuch.

Meneer De Koster, onze "Meester", der Verfasser dieser schlicht-markanten Sätze war ein Mann mittleren Alters und mittlerer Größe. Er trug heute wie stets einen unauffällig grauen Anzug und prinzipiell ein spezielles gütiges Lächeln im Gesicht. - An die Farbe seiner Krawatte kann ich mich nicht mehr erinnern. Sie muß wohl sehr dezent und unauffällig gewesen sein.

Trotz seiner fast unerbittlichen Strenge in der Klasse mochten wir Jungen Meneer De Koster, unseren "Meester". Denn er war biblisch gerecht, zeigte oft volkstümlichen Humor und Anflüge von christlichem Toleranzvermögen.

Wir standen militärisch stramm in unseren Holzbänken der alten Art, soweit unsere Holzklompen das überhaupt zuließen, als Meneer De Koster die Klasse betrat, leichtfüssig mit kleinen Schritten zum Podester ging und sich uns mit einer sportlichen Drehung zuwandte.

"Guten Morgen! - Wir beten, Männer!" waren seine ersten Worte an seine "Mannschaft", wie er uns nannte.

Den Wortlaut des allmorgendlichen Schulgebetes habe ich leider vergessen, aber ich weiß noch, daß wir zusätzlich ein "Vaterunser" und ein "Gegrüßet-seist-du-Maria" beteten. Die äußere Form der Morgenandacht unterlag festen, ungeschriebenen Regeln und war nur der Tradition verpflichtet, verkörpert durch Meneer De Koster.

Die Handflächen mußten aufeinandergepreßt schräg aufwärts gen Himmel gerichtet sein, die Augen geschlossen und das Haupt demutsvoll gesenkt.

Der Leib aber hatte straff zu sein wie eine gespannte Stahlfeder. Die Silben der Worte unseres Gebetes hatten zu donnern wie die wuchtigen Hammerschläge des Dorfschmiedes auf dem Eisenamboß:"...On-ze Va-der, die in den he-mel is.."

Wehe dem, der diese strengen Regeln nicht befolgte. Er mußte zur Buße mit erhobenen Händen eine endlos lange Zeit vor der Klasse auf dem Podester knien.

Ich, der damals zwölf Jahre alte Waisenhausflegel, war nicht der einzige, der es trotz Verbots wagte, die Augen nur zu dreiviertel zu schließen und durch die Wimperngardinen Meester De Koster zu beobachten.

Er stand kerzengerade mit verklärtem Lächeln auf dem erhöhten Podester in vorschriftsmäßiger Gebetshaltung uns zugewandt, aber im Gegensatz zu uns die Augen himmelwärts. Zuweilen schien er sogar einen Heiligenschein zu tragen, immer dann, wenn die Sonnenstrahlen durch die Fenster drangen und von der Wandtafel hinter ihm reflektiert wurden.

Kaum aber war die Morgenandacht zu Ende und das Kreuzzeichen geschlagen, entfrommte Meneer De Koster seine betenden Hände, indem er sie seitlich ausstreckte und in Schwurhände verwandelte. Aus seinem himmlischen Lächeln wurde dabei ein maliziöses Grinsen, und auf sein Fingerschnippen hin schrieen wir alle frenetisch und überlaut: " Wat Waals is - vals is - slaa dood!" ("Was welsch ist - falsch ist - schlag tot!")

Immer noch stehend, bis ins Mark erschüttert und kampfbereit, lasen wir gemeinsam im Chor Meester De Kosters Tafeltext, aus dem ich heute nach sechsundfünfzig Jahren noch auswendig auf Flämisch deklarieren kann:

"Es war um das Jahr 1200. Flandern war sehr reich geworden. Das kam durch Handeltreiben und Arbeiten. Frankreich wurde neidisch auf den Wohlstand der flämischen Städte und versuchte, durch List und Heimtücke in ihren Besitz zu kommen. In unseren Städten Gent, Brugge und Kortrijk siedelten sich immer mehr französische Kaufleute an, um unsere Bürger auszuplündern und sich ihren Reichtum anzueignen.

Da beschlossen die Gildenmeister der Metzger und Schneider, diesem teuflischen Treiben ein Ende zu bereiten.

Jan Breydel, von der Zunft der Metzger, und Pieter de Koning, von der Zunft der Schneider, drangen mit ihren Getreuen eines Nachts in die Häuser der "Welschen" ein, rissen sie aus ihren Betten und forderten sie auf, ihnen die zwei flämischen Wörter "Schild" und "Vriend" nachzusprechen. Da die französischen Neidlinge das nicht konnten, schnitt man ihnen die Gurgel durch.

Aus Wut über diese vaterländische Tat der Flamen schickte der französische Kaiser ein Ritterheer von 8000 französischen Reitern nach Flandern, um die Flamen zu züchtigen und sich gleichzeitig ihrer Städte zu bemächtigen.

Aber auch die flämischen Zunftmeister hatten zur Verteidigung ihres Volkes und ihrer Städte zu den Waffen gerufen. Alles, was laufen konnte, junge und alte Männer, eilten mit ihren Waffen - mit Äxten, Armbrüsten, Spießen, "Morgensternen" ("Goeiedag" - mit Nägeln bespickte Keulen), Sensen und Dreschflegeln - nach "Groeningveld", einer Sumpfwiese bei Kortrijk, um die Todfeinde gebührend zu empfangen.

Die Mannschaften standen nach Zünften aufgestellt. Vorneweg der bärenstarke Jan Breydel von der Metzgerzunft, über seinem Haupt wild das Schlächterbeil schwingend. Rechts neben ihm stand der Fahnenträger. Das Ehrentuch, der schwarze, kämpfende Löwe auf gelben Grund, flatterte frei und froh im Morgenwind.

Vor der Schlacht beteten die flämischen Streiter laut und voller Inbrunst zu ihrem Herrgott und befahlen sich noch ganz besonders dem Schutz der Heiligen Gottesmutter an, deren Abbild von den Standarten der verschiedenen Zünfte hell im Sonnenlicht leuchtete.

Kaum aber hatten die flämischen Mannen "Onze Lieve Vrouw Van Vlaanderen" angestimmt, als aus der Ferne eine mächtige dunkle Staubwolke dräuend näher und näher auf sie zukam. Das konnten nur die französischen Ritter sein."

Hier endete Meneer De Kosters Tafeltext, und "mitten aus dem Kampfgetümmel" weckte uns die helle Baritonstimme unseres Lehrers: "Naar Groeningveld - het roffeln van de Trommels. Naar Groeningveld - de vandels in de wind.." ("Nach Groeningveld! - das dröhnen die Trommeln. Nach Groeningveld - die Fahnen in den Wind!...").

Wie in Trance stimmten wir in den flämischen Schlachtengesang ein und sahen uns im Geiste mitten im Kampfgetümmel einen verhaßten welschen Ritter von seinem Roß zerren und mit dem "goeiedag" den Schädel einschlagen.

Ja, nach Groeningveld wollten wir und dort für Flanderns Freiheit und Ehre kämpfen, die Welschen tot schlagen; denn "Was welsch ist - falsch ist - schlag tot!"

Es war an einem Sommertag anno 1997.
An der flämisch-belgischen Küste bei De Panne hatte ich im Meer gebadet und döste jetzt, an einer Düne liegend, in den blauen Himmel hinein. Vor meinem geistigen Auge tauchten Jugenderinnerungen auf: das mehr als spartanisch harte Waisenhaus "Joe English" bei Antwerpen, meine ehemaligen Schulkameraden mit meinem Widersacher Polleke Buys und natürlich Meneer De Koster, onze Meester, mit seinem atemberaubenden, militant flämisch-katholischen Geschichtsunterrricht: Im Sumpf von Groeningveld war die erste Welle der anstürmenden französischen Ritter mitsamt ihren Rössern versunken, die zweite Welle von den durch die Flamen abgeschossenen Armbrustpfeilen durchbohrt und der Rest im blutigen Nahkampf erledigt worden.

Das hatte er uns damals erzählt und anderentags in ähnlicher Form an die Schultafel geschrieben.

Nach dem Sieg über die achttausend französischen gepanzerten Reiter hatte man achttausend goldene Sporen auf der Walstatt eingesammelt, sie im Triumph zur Onze Liewe Vrouwe Kerk nach Kortrijk gebracht und sie nach einem urgewaltigen Dankgottesdienst im großen Mittelschiff der Kirche an die Decke gehängt.

"Und dort hängen sie noch", waren die Worte von Meneer De Koster gewesen.

Aber das hatte er vor sechsundfünfzig Jahren gesagt, und es war niemals nachgeprüft worden. Obwohl ich seinen Worten traute wie den Worten des Evangeliums, wurde ich im Sommer 1997, am Strand von De Panne, plötzlich mißtrauisch und beschloß, mich eilends anzuziehen, nach Kortrijk zu fahren, um dort nachzuschauen. Vor dem Städtchen parkte ich mein Fahrzeug und ging zu Fuß weiter.

Wohl eine halbe Stunde lang schlenderte ich durch den Charme des Mittelalters und verweilte schließlich eine gute Begeisterungsminute vor dem Denkmal von Jan Breydel und Pieter de Koning. Zwei koreanische Studentinnen mußte ich vor dem flämischen Heldenmal knipsen. Im Gegenzug fotografierten sie mich mit meinem Apparat an der gleichen Stelle in "Heldenpose".

Ein kahlköpfiger älterer Mann kam des Wegs.

"Pardon, waar is Onze Lieve Vrouwe Kerk?" fragte ich ihn. Genau wüßte er es auch nicht, aber links hinter dem Rathaus müßte sie wohl liegen.

Meine Schritte wurden schneller, mir wurde heiß, und der Schweiß trat mir aus den Poren - so kurz vor dem Ziel. Endlich hatte ich sie gefunden, die Onze Lieve Vrouwe Kerk. Ich trat ein in die wohltuende historische Grabeskühle der Kirche, in Meneer De Kosters religiös-patriotisches Entzücken.

Bei jedem Schritt in diese flämische Reliquie schaute ich suchend zur Decke des Mittelschiffes, aber konnte keine einzige Goldene Spore entdecken.

Das konnte und durfte nicht sein! Sie mußten an diesem geweihten Ort irgendwo hängen. - Ah, sicher im Seitenschiff baumelten sie von der Decke. Aber außer bunten Malereien, Girlanden und Deckenheilige darstellend, konnte ich nichts erspähen, was nach Güldenen Sporen ausgesehen hätte.

Von den Wänden starrten mich stolz vornehm gewandete Steinbilder flämischer Edelinge an. Doch wie sollten mir die steinernen Gestalten Antwort auf den Verbleib der goldenen Sporen geben?

Enttäuscht und nachdenklich verließ ich das Sakralgebäude und schlenderte durch eine schmale Pflastersteingasse in Richtung Markt zurück.

Ein kleines Metallschild mit der Aufschrift "Gemeendekultuur" ließ mich aufmerken.

Ich ging schnurstracks durch die offene Tür ins Gebäude, über eine abgetretene Holztreppe ins Büro.
In einem abgewetzten altertümlichen Lehnstuhl saß ein grauhaariger, kurzer, fülliger Mann, der sinnend zurückgelehnt eine Pfeife schmauchte, am Schreibtisch eine dezent auf jugendlich geschminkte Blondine mit übergeschlagenen Beinen auf ihrem Bürostuhl, eine Zigarette paffend. Ansonsten herrschte an ihrer Schreibmaschine Stille.

"Pardon en goeie Dag! Ik kom juist uit de Onze Lieve Vrouwe Kerk. Waar zijn die 8000 Goldene Sporen gebleven? Ik heb ze nergend kunnen vinden." ("Entschuldigung und guten Tag! Ich komme geradewegs aus der Onze Lieve Vrouwe Kerk. Wo sind die goldenen Sporen geblieben? Ich habe sie nirgendwo finden können.") sprudelte ich atemlos hervor.

Beide schauten mich überrascht an, währenddessen der Grauhaarige heftig an seiner Pfeife saugte. Er grinste zuerst mich und dann die Blondine an: "Hast du vielleicht die Goldenen Sporen gesehen, Griet?" fragte er sie. Griet lachte schallend und schüttelte verneinend den Kopf.

Noch immer grinsend legte der Abteilungsleiter die Pfeife in den Aschenbecher und erzählte mir, daß die Goldenen Sporen der in der Schlacht bei Groeningveld gefallenen französischen Ritter höchstwahrscheinlich in der Onze Lieve Vrouwe Kerk gehangen hätten. Ob es wirklich 8000 gewesen wären, könne man nicht mehr recherchieren. Er würde sich jedoch umhören und mir Bescheid schicken.

Eine Woche später erhielt ich Post aus Kortrijk.

Im Umschlag steckte die Fotografie einer einzigen Goldenen Spore, und auf der Rückseite des Briefes stand geschrieben: "Beste meneer, de restelijke 7.999 Sporen hebben die Fransmannen. Tot ziens bij de volgende Guldene Sporen Slag." - Hartelijk: Jan Breydel en Pieter de Koning." ("Werter Herr, die restlichen 7.999 Goldenen Sporen haben die Franzosen. Auf Wiedersehen bei der nächsten Goldene Sporen Schlacht! - Herzlich: Jan Breydel und Pieter de Koning.")

(aus: Verdammter Moff)